Regierungserklärung zur Flüchtlingspolitik

Sehr verehrter Herr Präsident, meine Damen und Herren! In der Debatte zur Regierungserklärung des Ministerpräsidenten Bouffier wollten wir uns heute darüber austauschen, wie die Situation der Flüchtlinge und auch der Asylbewerber in Hessen ist und dass Hessen handelt. Ich muss ganz ehrlich sagen: Was das Handeln betrifft, so ist das relativ unkonkret geblieben. Bis heute habe ich nicht verstanden, welches der Plan dieser Landesregierung ist: wie wir bis zum Winter die Unterkünfte schaffen wollen, den Menschen Sprachkurse vermitteln wollen, die Ehrenamtler unterstützen wollen. Auf diese offenen Fragen ist die Landesregierung konkrete Antworten schuldig geblieben. Meine Damen und Herren, so schaffen wir das nicht.

Natürlich muss man an einem gemeinsamen Strang ziehen und versuchen, die Menschen, die zu uns nach Hessen kommen, humanitär und vernünftig unterzubringen. Wenn wir aber seit dem Jahr 2012 über genau diese Fragen im Hessischen Landtag immer wieder in unterschiedlichen Rollen diskutieren, seit dem Jahr 2014 sogar in einer neuen Regierungskoalition, dann wird es Zeit, dass wir nicht nur darüber diskutieren, sondern auch konkrete Vorschläge machen. Meine Damen und Herren, dieses Jahr im Sommer hat uns die Situation in Hessen gezeigt: Das bloße Reden bringt uns nichts, weil uns die Realität längst eingeholt hat und wir in Hessen kein Konzept haben, wie wir die Menschen human unterbringen können. Daher müssen Sie wirklich mit diesem Vorwurf leben, und es ist wichtig, dass Sie jetzt endlich zuhören und auch handeln.

Meine Damen und Herren von der Landesregierung, Sie können natürlich immer wieder darauf hinweisen, dass die 15-prozentige Erhöhung der Pauschalen erreicht worden ist, dass Sie die InteA-Sprachklassen eingeführt haben. Sie können immer wieder auf die Dinge, die Sie erreicht haben, hinweisen. Aber wenn wir uns die Situation anschauen, was in diesem Sommer los war, wenn wir uns die Erstaufnahmeeinrichtung in Hessen und die Außenstellen anschauen – ich will ganz klar Wetzlar als Beispiel nennen –, dann ist das, was wir bisher geschafft haben, nicht ausreichend. Die Ehrenamtler fühlen sich im Stich gelassen. Die Flüchtlinge, die in Erstaufnahmeeinrichtungen ausharren und auf Verfahrensberatung warten, bekommen keine Informationen. Vor allen Dingen gibt es auch keine ausreichenden Strukturen in der Gesundheitsversorgung. Wir reden über Willkommenskultur, aber wir haben bis heute keine Willkommensstruktur geschaffen. Das kann nicht bloß mit Worten geschehen; wir brauchen hier finanzielle Mittel und Personalstellen.

Während wir in Hessen eine Menge Hausaufgaben nicht erledigt haben, habe ich mich sehr darüber gewundert, dass auf der Bundesebene die Verschärfung des Asylrechts wieder aus der Mottenkiste der Neunzigerjahre geholt wurde, dass schon wieder darüber diskutiert wird, die Zahl der sicheren Herkunftsstaaten auszuweiten, dass darüber diskutiert wird, das Sachleistungsprinzip einzuführen, und dass darüber diskutiert wird, dass die mögliche Dauer des Aufenthalts in Erstaufnahmeeinrichtungen von drei auf sechs Monate erhöht werden soll. Das führt zu vorprogrammierten Katastrophen und vorprogrammierten Konflikten. Deshalb muss die Landesregierung einen solchen Asylkompromiss auf der Bundesebene am Donnerstag, dem 24. September, definitiv ablehnen und verhindern, auch wenn die Bundesebene bei Annahme des Kompromisses 6 Milliarden € in Aussicht stellt. Es darf nicht geschehen, dass das Grundrecht auf Asyl durch das Versprechen finanzieller Leistungen ausgehöhlt wird. Das ist ein falsches Spiel, das ist die falsche Art der Verhandlung. Menschenrechte darf man meiner Meinung nach nicht auf dem Verhandlungstisch verhökern. Das ist schon einmal geschehen, nämlich im September letzten Jahres. In diesem Jahr muss Hessen meiner Meinung nach auf der Bundesebene definitiv Nein sagen.

Es gibt Menschen in Hessen, die Sorge haben, dass es zu einer Überfremdung kommen wird. Das stimmt. Es gibt auch Menschen, die die Sorge haben, dass wir mit der Zahl der Asylanten nicht zurechtkommen werden. In der Situation sollten wir aber nicht versuchen, die Stammtische mit falschen Antworten zu beruhigen, sondern es ist wichtig, dass wir den Menschen die Zahlen und Fakten nennen. Wenn wir uns anschauen, wie viele Asylbewerber Deutschland bisher aufgenommen hat, dann sehen wir: Wir stehen in Europa nicht an der ersten Stelle, sondern an sechster Stelle. An erster Stelle kommt Schweden; dann folgen Luxemburg, Malta, Italien und Griechenland. Wenn wir weltweit vergleichen, wie wir unserer humanitären Verantwortung gerecht werden, dann finden wir uns an 13. Stelle. Nur rund 0,24 % der Asylanträge landen bei uns in Deutschland – und zwar deswegen, weil wir in den letzten Jahren durch das Dublin-Abkommen und durch die Verschärfung des Asylrechts dafür gesorgt haben – Frau Wissler hat es schon gesagt –, dass fast kein Asylbewerber legal in dieses Land kommen kann. Von daher gesehen, sind die anderen europäischen Länder jetzt genauso unsolidarisch mit uns, wie wir uns in den Jahren zuvor ihnen gegenüber unsolidarisch verhalten haben. Von daher ist es sehr wichtig, wenn wir jetzt mehr Flüchtlinge aufnehmen als in den letzten Jahren, dass uns bewusst ist, dass wir immer noch nicht die Vorreiter sind. Deswegen muss man den Leuten in unserem Land erklären: Wir haben eine humanitäre Verpflichtung, wir werden sie wahrnehmen, und wir müssen auch dafür sorgen, dass entsprechende Strukturen geschaffen werden.

Wie sehen diese Strukturen aus? Ich möchte ganz klar sagen: Anstatt das Asylrecht auf Bundesebene zu verschärfen, haben Sie die Möglichkeit, das Asylrecht auf Bundesebene zu liberalisieren, indem Sie die Balkanflüchtlingen, die hierherkommen, nicht in das Asylverfahren drängen, sondern ihnen eine Duldung für sechs Monate erteilen – mit Zugang auf den Arbeitsmarkt und vor allen Dingen mit einer Aufhebung der Vorrangprüfung, um diesen Menschen eine reale Möglichkeit zu geben, eine Arbeit zu finden. Wenn sie Arbeit gefunden haben, dann sollten sie bleiben können. Aus den Balkanländern sind viele hoch qualifizierte Menschen mit ihren Familien zu uns gekommen. Sie versuchen, hier eine Arbeit zu finden, und es gibt auch Arbeitsplatzangebote, Arbeitgeber, die diese Menschen gerne anstellen würden. Sie scheitern aber daran, dass es eine Vorrangprüfung gibt, und sie scheitern daran, dass sie keinen legalen Status bekommen. Warum schieben wir diese Menschen ab? Lassen wir sie doch einfach mit einer Duldung hier. Lassen wir sie einen Arbeitsplatz suchen. Wenn sie ihn finden, sollen sie ihres Glückes Schmied werden und nicht abgeschoben werden. Auf der anderen Seite geht es auch darum, was wir mit den Asylbewerbern machen, die seit Jahren in Deutschland sind. Wir wollen sie integrieren und warten die ganze Zeit darauf, ob auf Bundesebene genug Geld für Sprachkurse zur Verfügung gestellt wird. Warum machen wir kein eigenes Landessprachprogramm, mit dem wir die Arbeitsmarktintegration und die soziale Integration dieser Menschen unterstützen? Warum öffnen wir das WIR-Programm, das mit 3,1 Millionen € ausgestattet ist, nicht auch für Flüchtlinge und Asylbewerber? Warum wird da zwischen Menschen mit gesichertem Aufenthalt und Menschen mit ungesichertem Aufenthalt unterschieden? Das ist eine Politik von gestern, nicht aktuell und nicht vorausschauend. Deshalb muss Hessen auch hier seine Haltung ändern.

Wir haben darüber diskutiert, wie viel Geld im Haushalt zur Verfügung gestellt wird. Ungefähr 680 Millionen € werden im Haushalt zur Verfügung gestellt, um diese Menschen erst einmal zu versorgen und unterzubringen. Es gibt aber immer noch keine Diskussion darüber, wie eine unabhängige Verfahrensberatung und eine Traumaberatung für diese Menschen denn aussehen sollen. Es gibt überhaupt keine Idee, wie beispielsweise auch auf kommunaler Ebene die Koordinierung der Unterbringung und Versorgung der Menschen gewährleistet werden soll. Meine Damen und Herren von der Landesregierung, nehmen Sie 1% des Geldes, das sind 6,8 Millionen €, runden Sie sie nach oben auf, machen Sie 7 Millionen € daraus, und verwenden Sie sie für eine unabhängige Verfahrensbegleitung, für die Gewinnung, Koordinierung und Unterstützung des zivilgesellschaftlichen Ehrenamts und für die Verbesserung der psychosozialen Versorgung von Menschen, die schutzbedürftig sind. Das wäre eine echte strukturelle Änderung, von einer Willkommenskultur hin zu einer Willkommensstruktur, und es wäre nicht nur bloßes Gerede, es wären nicht nur leere Worte. Die wollen die Menschen nämlich nicht mehr hören.

 Jetzt möchte ich ganz konkret darauf eingehen, was die Unterteilung in „gute“ und „schlechte“ Flüchtlinge betrifft.  Auch in Hessen wird von verschiedenen Leuten suggeriert, dass die aus dem Westbalkan kommenden Menschen Asylschmarotzer seien und unser Land nur ausbeuten wollten. Das ist nicht so. Auf der einen Seite werden Menschen, die nach dem Balkankrieg ganz legal zu uns gekommen sind, links liegen gelassen. Es wird ihnen die Möglichkeit gegeben, nach Arbeit zu suchen. Auf der anderen Seite wird das BAMF unnötigerweise mit den Asylanträgen derer überschwemmt, die nach der Ausweitung der Zahl der sicheren Herkunftsstaaten ganz schnell abgelehnt und abgeschoben werden sollen. Auf der einen Seite gibt es die Syrer, die wir gerne aufnehmen wollen. Die warten ganz lange auf ihre Verfahren und kommen überhaupt nicht dazu, einen Asylantrag zu stellen. In der Erstaufnahmeeinrichtung in Wetzlar habe ich mit vielen Flüchtlingen gesprochen, auch Syrern, die schon seit zwei, drei oder vier Monaten in Deutschland sind, noch keinen Asylantrag stellen konnten und deswegen überhaupt nicht davon profitieren, nach drei Monaten in den Arbeitsmarkt integriert zu werden, Sprachkurse zu bekommen oder von der Residenzpflicht ausgenommen zu werden. Auf der anderen Seite gibt es viele Balkanflüchtlinge, die eine vernünftige Verfahrensberatung haben wollen, die gar keinen Asylantrag stellen wollen und gefragt haben: „Ich will hier nur arbeiten, ich will gar kein Asyl. Wer kann mir helfen?“ In dieser Situation gibt es sehr viele ehrenamtliche Helferinnen und Helfer vor Ort, die versuchen, zu unterstützen. Sie sind nicht in die Erstaufnahmeeinrichtung eingebunden, und sie werden überhaupt nicht ernst genommen. Deshalb gibt es mehrere Briefe, beispielsweise einen offenen Brief der Kirchenverbände aus dem Lahn-Dill-Kreis, die sich darüber beschweren, dass die hygienischen Zustände katastrophal sind, die sich aber auch darüber beschweren, dass sie nicht ernst genommen werden, wenn sie als Ehrenamtler Unterstützung leisten wollen. Es gibt einen Brief der Frauenverbände, in dem diese darauf hinweisen, dass Frauen in den Erstaufnahmeeinrichtungen nicht geschützt sind, dass sie verschiedenen Formen von Gewalt und Ausschreitungen ausgesetzt sind, dass sie z. B. Vergewaltigung und sexueller Belästigung ausgesetzt sind. Das ist deshalb der Fall, weil wir 6.000 Menschen in Zelten unterbringen. Angesichts dieser Situation ist die Antwort lächerlich, in Darmstadt für 350 Frauen einen Platz zu finden. Das reicht nicht, und deswegen müssen wir ganz schnell endlich ein Bauprogramm verabschieden, damit wirklich Wohnraum geschaffen wird. Es muss ein Landesbürgschaftsprogramm verabschiedet werden, damit Private, die Unterkünfte schaffen wollen, von der WIBank Unterstützung und vor allen Dingen Kredite bekommen. Meine Damen und Herren, „die Würde des Menschen ist unantastbar“. In Hessen müssen wir mehr tun, um unsere Hausaufgaben erledigen. Auf der Bundesebene müssen wir zu einer Verschärfung des Asylrechts definitiv Nein sagen.

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