Öztürk: „Integration und Religion trennen“

Wetzlar. Die Wetzlarer Landtagsabgeordnete Mürvet Öztürk spricht sich gegen eine Migrantenquote bei Polizisten und Lehrern aus. Wie dennoch mehr Menschen mit ausländischen Wurzeln in den öffentlichen Dienst kommen sollen und warum die Leser von Thilo Sarrazin nicht alle Rechtsradikale sind, erklärt die Integrationspolitische Sprecherin der Grünen im Interview.

Eigentlich hat er ja Recht.

Mürvet Öztürk: Wer?

Sarrazin. So lautet der Tenor aus der Bevölkerung zu seinen Thesen.

Öztürk: Nein, er hat nicht Recht. Er differenziert nicht, er verallgemeinert und er zieht Schlüsse, die nicht das Gesamtbild darstellen.

Wie erklären Sie sich, dass sein Buch in der Mitte der bürgerlichen Gesellschaft so viel Anklang findet?

Öztürk: Es geht mir nicht darum, vorhandene Probleme unter den Teppich zu kehren und zu sagen, es ist alles in Ordnung. Das ist es nicht. Er hat aber deshalb nicht Recht, weil viele Menschen, die sich seit Jahren mit Integration beschäftigen, die Probleme viel konkreter und differenzierter benennen und auch klare Lösungsvorschläge machen. Das macht Sarrazin nicht. Er vermischt, vermengt und verallgemeinert. Wenn nun viele Menschen sagen, „eigentlich hat er Recht“, dann ist es erst recht unsere Aufgabe als Politikerinnen und Politiker zu sagen, wie dieses verzerrte Bild wieder gerade gerückt werden kann. Auch in einer demokratischen Gesellschaft hat nicht immer die Mehrheit Recht.

Sarrazin belegt Platz 1 in der Spiegel- und Amazon-Bestseller-Liste. Bei 250 000 Auflage können die Käufer doch nicht alle Rechtsradikale sein, oder?

Öztürk: Natürlich sind das nicht alles Rechtsradikale. Wer sagt, hier stimmt etwas nicht, ich fühle mich nicht wohl, der soll nicht in die rechte Ecke eingeordnet werden. Das wäre ein fataler Fehler. Ich bin dafür, diese Ängste wahrzunehmen, sie aber nicht zu schüren. Wer allerdings Ängste schürt, um sie dann als Argument zu gebrauchen, der geht nicht fair mit den Menschen um. Ich würde gerne mehr über diese Ängste sprechen – bei Migranten und einheimischer Bevölkerung.

Haben Sie das Buch gelesen?

Öztürk: Natürlich nicht! Die Zitate aus seinem Buch, die ich aus den öffentlichen Debatten kenne und auch seine Thesen, die er auf der Veranstaltung im Hessischen Integrationsministerium vertreten hat, die ausschweifenden, aber wenig konstruktiven Antworten, die er damals auf meine konkreten Fragen gegeben hat, haben mir gereicht.

Und als ganzes Werk?

Öztürk: Nein, weil ich kein Geld für dieses Buch ausgeben werde. Ich möchte nicht unterstützen, dass man mit Ausländer- und Migrantenschelte richtig Geld machen kann.

Sie würden es lesen, wenn Sie es nicht bezahlen müssten?

Öztürk: Ich würde mir Passagen anschauen, ja.

Hier, bitte. Ich kann es Ihnen ausleihen.

Öztürk: Ja, danke. Nehme ich mit.

Eigentlich müssten Sie als Integrationspolitikerin Sarrazin dankbar sein. Selten wurde so intensiv über Integration diskutiert wie seit der Buchveröffentlichung.

Öztürk: Da täuscht der Eindruck. Nehmen Sie die Debatte um das Zuwanderungsgesetz, das im Jahre 2000 eingebracht und mit erheblichen Veränderungen im Jahre 2004 verabschiedet wurde und 2005 in Kraft getreten ist. Oder nehmen Sie seit 2006 die Stichworte nationaler Integrationsplan, Islamkonferenz und Integrationsgipfel – damals von der schwarz-roten Regierung eingesetzt, nun von der schwarz-gelben fortgesetzt. Auch hier in Hessen haben wir in den letzten Landtagswahlkämpfen reichlich über das Thema Integration gesprochen.

Es ist kein neues Thema mehr. Es ist aber ein Phänomen, dass es einen Hype gibt, alle reden darüber, dann flacht es ab und jeder geht wieder seinen Weg und keiner kümmert sich um die Probleme. Wenn das das Phänomen sein wird, dann ist es das Schema der letzten sieben, acht Jahre. Ich fände es gut, nach einer solchen Diskussion weiter in der Praxis daran zu arbeiten.

Stichwort Hessen: Unser neuer Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) hat in seiner Regierungserklärung acht Mal das Wort Integration verwendet. Viel oder wenig?

Öztürk: Ich glaube, dass Ministerpräsident Bouffier sich von seinem Vorgänger deutlich absetzen möchte. Er spricht von einem Miteinander, von aufeinander zugehen. Allerdings werden gleichzeitig die Mittel für Sprachförderung gekürzt. Da bin ich abwartend, was die Arbeit der neuen Regierung betrifft: Wird er das, was er ankündigt, auch einhalten oder handelt es sich hier nur um Worthülsen?

Wer sich in der Fremde immer wie ein Fremder verhält, wird fremd bleiben. Stimmen Sie dem zu?

Öztürk: Stimmt.

Ist nicht von mir. Hat Bouffier gesagt.

Öztürk: Ja, ich war dabei. Und er hat auch gesagt, wer dauerhaft hier leben will, soll Hesse werden. Das heißt für mich aber auch, wen die (Mehrheits-)Gesellschaft nicht zum Fremden werden lässt, wird auch nicht Fremder bleiben.

Aber wo sind die Migranten beim bürgerschaftlichen Engagement der Gesellschaft in der Freiwilligen Feuerwehr, im Naturschutzverein oder auch in den politischen Parteien? Maximal ein oder zwei Vorzeigekandidaten, dort wo es ums Allgemeinwohl geht. Schauen Sie sich im Kreistag oder im Stadtparlament um. Trotz Einbürgerung sind engagierte Migranten immer noch die große Ausnahme. Auch bei SPD und Grünen, die ja nun schon seit Jahrzehnten davon reden.

Öztürk: Das ist eine Generationenfrage. Die erste Generation, die hier gearbeitet hat, war nicht in der Lage, das politische System zu verstehen und daran teilzuhaben. Das war manchen Parteien sicherlich ganz recht. Mittlerweile gibt es eine Generation, das ist die meine, die mitarbeiten möchte – vielleicht gelegentlich auf eine andere Art als man es gewohnt ist. Ich glaube, dass noch nicht alle Parteien verstanden haben, dass sie sich ein Stück öffnen müssen. Das trifft aber auch für Vereine und Verbände zu, die durchlässigere Strukturen brauchen, um diese Menschen teilhaben zu lassen. Bei der Feuerwehr ist das jetzt eine sehr gute Diskussion, wo erkannt wird, dass aktive Ansprache mehr bringt als das Sitzen und warten bis jemand kommt.

Können wir eine Integrationsdebatte führen ohne über die Rolle der Türkei und ihres Einflusses auf Menschen mit türkischen Wurzeln in Deutschland zu sprechen?

Öztürk: Mittlerweile besser. In meiner Jugendzeit war der Einfluss der Türkei auf türkische Migranten in Deutschland stärker. Der Teil der heutigen Jugendlichen mit türkischem Hintergrund, die ihre Zukunft und ihre Heimat klar in Deutschland sehen ohne ihre türkischen Wurzeln zu verleugnen, werden die Meinungsführer der nächsten Jahre werden.

Brauchen wir eine Migrantenquote bei Lehrern und Polizisten?

Öztürk: Quoten haben immer die Gefahr, dass sie den Menschen disqualifizieren und rein auf seine Quoteneigenschaften beschränken. Das würde der Debatte nicht nutzen. Gleichwohl brauchen wir mehr Menschen mit Migrationshintergrund im öffentlichen Dienst.

Wie?

Öztürk: Durch eine positive Diskriminierung. Zu überlegen ist, ob man bei Stellenausschreibungen Menschen mit Migrationshintergrund und gleicher Qualifikation auffordert sich zu bewerben – so wie man es bei Frauen und Behinderten auch tut. Kein Muss, keine Quote, aber die klare Aussage: Ja, wir wollen euch, bewerbt euch! Natürlich darf man dabei nicht in Konflikt mit dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz geraten.

Können wir Menschen zwingen, sich zu integrieren, die deutsche Sprache zu lernen?

Öztürk: Wer in einem Land leben will und sich zurechtfinden will, muss die Sprache lernen. Das ist auch in der Türkei so, warum soll das in Deutschland anders sein. Das geht aber nicht mit Gewalt. Wir müssen schauen, welche Qualifikation haben die Menschen, wenn sie nach Deutschland kommen. Viele der Migranten der ersten so genannten Gastarbeitergeneration schafften es ohne Unterstützung nicht. Die gab es in den ersten 30 Jahren auch nicht. Weder gab es niedrigschwellige Sprachkurse, noch Alphabetisierungskurse. Daher müssen wir uns auch fragen: Was haben wir in der Politik versäumt?

Soll Zuwanderung zukünftig von der Qualifikation abhängen?

Öztürk: Wir brauchen Zuwanderung qualifizierter Kräfte, ohne Zweifel. Aber Zuwanderung nur auf beruflich hochqualifizierte Menschen einzuschränken, wäre aus meiner Sicht ein fataler Fehler. Wir brauchen in unserer Gesellschaft den Arzt und Ingenieur genauso wie die Pflegekraft, die Kraft in der Gastronomie und im Baugewerbe.

Aber nicht wenige scheitern an den Hürden des Arbeitsmarktes.

Öztürk: Bei uns wird oft das Bild des faulen Ausländers gezeichnet, der nicht arbeiten möchte und ganz gezielt in die Sozialsysteme einwandern will. Daher sollten wir auf die Höhe und Sinnhaftigkeit der Integrationshürden auf dem Arbeistmarkt schauen.

Gibt es Beispiele?

Öztürk: Ein Punkt ist die Anerkennung ausländischer Abschlüsse, etwa bei Medizinern. Das Problem ist erkannt, es wird demnächst sogar ein Gesetz dazu geben. Zudem können Nicht-EU-Ausländer erst einen Job antreten, wenn der Arbeitgeber nachweisen kann, dass es für den Arbeitsplatz keinen EU-Ausländer und keinen Deutschen gibt. Hier müssen wir uns fragen, ob dieser Schutz des Arbeitsmarktes noch sinnvoll ist oder ob wir dadurch Menschen, die arbeiten wollen, in Hartz IV abdrängen und uns – etwa bei der Saisonarbeit – selbst Probleme schaffen, die nicht sein müssten.

Eine weitere Hürde bei Flüchtlingen ist die Residenzpflicht. Sie dürfen laut Gesetz zwar arbeiten, sind aber bei der Arbeitssuche auf Grund der Residenzpflicht auf den Bezirk ihres zuständigen Regierungspräsidiums eingeschränkt.

Teilen Sie die Befürchtung, dass es in Deutschland derzeit den politischen Raum für eine rechtspopulistische Partei gibt?

Öztürk: Wir sind gesamtgesellschaftlich gesehen in einer heiklen Situation. Wir haben große gesellschaftliche Probleme, die von der Finanzkrise über den Zusammenhalt im Sozialstaat, der Frage nach Energieversorgung ohne die veraltete Technologie der Atomkraft, dem Umweltschutz bis hin zu der hohen Staatsverschuldung als Last für zukünftige Generationen reichen. Wir sollten uns davor hüten, uns von diesen Problemen durch eine doch häufig sehr oberflächliche Diskussion über Migranten als Sündenböcke ablenken zu lassen.Ich glaube allerdings nicht, dass rechts von der CDU eine große Lücke ist, die von einem Rechtspopulisten gefüllt werden kann. Es ist aber eine große Unzufriedenheit in der Gesellschaft spürbar, weil die Menschen unsicher sind, was in der Zukunft passieren wird. Darauf müssen wir hören, die Ängste ernst nehmen und nicht die Menschen gegeneinander ausspielen.

Was würden Sie am liebsten in Deutschland für mehr Integration ändern?

Öztürk: Mehr im Bildungsbereich tun. Wir müssen ganz früh im Kindergarten und in der Grundschule dafür sorgen, dass wir Kinder und Eltern mitnehmen. Und: die Integrationsdebatte von der Religion trennen. Es wird derzeit so getan, als ob Integrationsunwilligkeit einen grundlegenden Bezug zur Religion hat. Das müssen wir differenzieren, denn der gut ausgebildete Iraner oder der arabische Ingenieur ist natürlich besser integriert als der marokkanische oder türkische Hilfsarbeiter, der vor 50 Jahren hierher geholt wurde – trotzdem haben es deren Kinder auch geschafft, zum Beispiel einen akademischen Abschluss zu machen. Das verdient Anerkennung und nicht religiöse Diffamierung.

Was geben Sie Migranten mit auf den Weg?

Öztürk: Ich wünsche mir, dass sie ihre Ängste abbauen, sich in der Gewissheit öffnen, dass ihre Kinder in dieser Gesellschaft leben werden. Ihre neue Heimat ist hier und aus beiden Kulturen können sie das Beste herausholen ohne die eine Kultur abzuwehren und sich an der anderen festzuklammern.

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