Aktuelle Stunde: Hessen schafft Klarheit und Chancen für Kinder ohne gesicherten Aufenthaltsstatus

Sehr geehrter Herr Präsident, meine Damen und Herren! Ich möchte mich in vielen Punkten meinem Vorredner anschließen. Herr Merz hat, was die Intelligenztheorie von Herrn Sarrazin betrifft, sehr wichtige und gute Dinge gesagt.

Ich möchte zur Causa Sarrazin nur noch anmerken, dass sie keine neue Causa ist. Sarrazin hat ein ausreichendes Forum gehabt, über seine Thesen zu reden, auch im Integrationsministerium der Hessischen Landesregierung. Ich wehre mich gegen die Aussage, dass Herr Sarrazin Tabus gebrochen habe. Ich glaube, es ist wichtig, dass wir gemeinsam daran festhalten, zu sagen: Sarrazin hat keine Tabus gebrochen, sondern Sarrazin polemisiert, provoziert, diffamiert. Dazu sagen wir Nein, weil wir als Demokraten genau diese Thesen nicht unterstützen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)

Ich möchte noch einmal unterstreichen, dass in diesem Land selbstverständlich Meinungsfreiheit herrschen muss – das haben wir von diesem Pult aus schon einmal zum Ausdruck gebracht –, dass es aber wichtig ist, wenn einer aus dem Vorstand der Bundesbank das im Namen aller Deutschen sagt, und dass es von Bedeutung ist, dass Deutschland nicht ein solches Bild abgibt.

Mir ist es wichtig, dass mein Land, Deutschland, im Ausland Vertrauen genießt und dass ich auch darauf vertrauen kann, dass in meinem Land, in Deutschland, die Demokraten in politisch schwierigen Situationen aufstehen und gemeinsam Nein sagen. Wir wollen nämlich keine Ängste schüren, und Ängste bedienen wollen wir auch nicht.

Ich glaube, das haben wir in dieser Debatte gezeigt. Diesen Konsens möchte ich hier noch einmal festhalten.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)

Nun zur sachlichen Seite der Debatte. Ich möchte einen kurzen Rückblick wagen. Auf den unterschiedlichen politischen Ebenen reden wir noch nicht solange über die Integration.

1955 sind die ersten sogenannten Gastarbeiter in dieses Land gekommen. Erst im Jahr 2005 ist ein Zuwanderungsgesetz verabschiedet worden, mit dem endlich akzeptiert wurde, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. In der Zwischenzeit waren 50 Jahre vergangen. Wir haben 50 Jahre gebraucht, um festzustellen, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Jetzt sind wir der Meinung, innerhalb von fünf Jahren all diese Probleme hundertprozentig lösen zu können. Das ist eine erneute Realitätsverweigerung, der wir uns nicht hingeben sollten.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN)

Das ist so, als ob man über verschüttete Milch reden würde. Es bringt nichts, immer in die Vergangenheit zu schauen. Vielmehr haben wir alle in diesem Haus gesagt, wir wollen in die Zukunft blicken.

Deshalb haben wir, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, in diesem Landtag mehrmals eine konstruktive Arbeitshaltung gezeigt. Wir haben die Arbeit der Landesregierung da, wo es sein muss, unterstützt. Bei dieser Haltung bleiben wir.

Aber es ist auch so, dass die Landesregierung arbeiten muss. Sie sind hier seit mehr als elf Jahren in der Verantwortung. Wenn man heute kommt und feststellt, es gibt Probleme, kann man nicht so tun, als ob man keinen Beitrag zum Entstehen dieser Probleme geleistet oder zumindest die Lösungsfindung verweigert hätte.

Wir haben in der Tat viele gesetzliche Änderungen eingeführt. Zum Beispiel haben wir Kindern mit illegalem Aufenthaltsstatus den Schulbesuch ermöglicht. Das war ein Schritt in die richtige Richtung. Aber, meine Damen und Herren, es gibt weitere Integrationshürden. Wenn Sie erlauben, können wir gemeinsam einen Blick auf diese Hürden werfen.

Wir haben eine Diskussion über die Integration auf dem Arbeitsmarkt geführt. In der Sitzung der Enquetekommission „Migration und Integration in Hessen“ vor 14 Tagen ist noch einmal klar geworden, dass es bei der Anerkennung ausländischer Abschlüsse ganz große Probleme gibt. Die Landesregierung hat bereits im März angekündigt, sie würde handeln und ein Konzept dazu vorlegen. Auf dieses Konzept warten wir noch. Es ist immer noch so, dass Menschen von Pontius bis Pilatus laufen müssen, wenn sie ihre ausländischen Abschlüsse anerkannt haben wollen.

Dass es nicht so sein darf, sagen wir alle. Wie aber eine Vereinfachung umgesetzt werden kann, sagt bisher keiner. Meine Damen und Herren, das kann nicht sein.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN)

Eine weitere Integrationshürde, die hier genannt werden muss, ist die Vorrangprüfung auf dem Arbeitsmarkt. Menschen, die hier arbeiten wollen und die beispielsweise einen geduldeten oder einen gesicherten Aufenthaltsstatus haben, müssen erst vom Arbeitgeber bescheinigt bekommen, dass für diesen Job weder ein Deutscher noch ein EU-Ausländer geeignet sind, sondern dass dafür ein Drittstaatsangehöriger angeworben werden muss. Das ist sehr schwer. Viele Arbeitgeber nehmen diese Hürden nicht und geben den Menschen nicht den Job, den sie sonst erhalten hätten.

Was passiert danach? Danach müssen diese Menschen leider öffentliche Transferleistungen erhalten, und schon entsteht das Bild vom in der Hängematte liegenden Menschen mit Migrationshintergrund. Das ist ein falsches Bild. Daran müssen wir arbeiten. Hier müssen wir die Integrationshürden abbauen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir alle sagen, dass die Integration vor Ort, in den Kommunen, erfolgt. Ich habe in diesem Jahr auf meiner Integrationstour den Schwerpunkt auf die Modellregionen Integration gelegt. Jawohl, das ist ein Schritt in die richtige Richtung.

Ich habe in den Kommunen aber auch festgestellt, dass die Menschen nicht wissen, wie sie als handelnde Akteure vor Ort eine nachhaltige Integrationspolitik gewährleisten sollen, wenn die finanzielle Grundlage nicht gesichert ist. Es ist ein Modellprojekt, das in zwei Jahren auslaufen wird. Keiner weiß heute, was in zwei Jahren sein wird, wie wir aus dieser „Projektitis“ herauskommen und wann in den Kommunen endlich eine finanziell gesicherte Basis für eine nachhaltige Integrationspolitik gewährleistet wird. Hierauf brauchen wir eine Antwort, und diese Antwort muss die Landesregierung geben.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ein Punkt im Zusammenhang mit dem islamischen Religionsunterricht ist ebenfalls mehrmals angesprochen worden. Herr Ministerpräsident Bouffier hat uns vorgestern hier versichert, dass dieses Land einen bekenntnisorientierten islamischen Religionsunterricht einführen möchte. Dann muss aber auch klar sein, dass Herr Irmer nicht ständig dazwischengrätscht und sagt: Ja, ja das ist ein Koalitionsvertrag, und wir müssen das erst einmal prüfen. Ob dieser Religionsunterricht erkenntnisorientiert sein wird, wissen wir noch nicht. – Es wird kein einheitliches Bild nach außen vermittelt, und das erzeugt kein Vertrauen.

Hierzu hat seit einem Jahr ein runder Tisch getagt. Wir möchten endlich Zwischenergebnisse erfahren. Wie wird sich also das Land in Sachen islamischer Religionsunterricht verhalten? Da können wir nicht lange warten. Meine Damen und Herren, wir hätten gern schon jetzt Antworten darauf.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN)

Ich komme zu einem weiteren Punkt, was die Hürden betrifft. Wir alle reden über Integration, differenzieren aber nicht, welche Form von Integration wir meinen. Bei der nachfolgenden Integration müssen wir viel mehr machen. Über Jahre hinweg sind an diesem Punkt eine Integrationspolitik oder das Vorlegen eines Konzepts verweigert worden. Menschen, die seit Jahren in Deutschland leben, haben keine ausreichende Unterstützung erhalten.

Ich kann dazu ein Beispiel nennen. Ich habe 1995 beim Kinderschutzbund gearbeitet und dort ganz konstruktiv junge Mädchen mit Migrationshintergrund beraten. Schon damals sind wir zu den politischen Instanzen gegangen und haben gesagt: Es gibt Probleme bei der Sprachförderung, es gibt Probleme mit der häuslichen Gewalt, und es entstehen Probleme für Menschen, die die Bildungsabschlüsse nicht schaffen, weil ihre Eltern Analphabeten sind.

Aber zwischen 1995 und 2005 sind zehn Jahre vergangen. Es wird nicht gehandelt, es wird darüber geredet, und es werden keine Lösungsvorschläge gemacht. Hier währt die Geduld leider nicht ewig.

Vizepräsident Frank Lortz:

Frau Kollegin Öztürk, Sie müssen zum Schluss kommen.

Mürvet Öztürk:

Ich komme zum Schluss. – Sehr wichtig ist die psychologische Hürde. Wir müssen den Menschen ein Urvertrauen geben und ihnen vermitteln, dass sie in diesem Land willkommen sind, dass sie hierher gehören und nicht unerwünscht sind. Wenn wir dieses Urvertrauen aufbauten, würde, glaube ich, sehr vieles viel besser funktionieren.

Im Zusammenhang mit der Willkommenskultur möchte ich heute ein Signal aus diesem Hause senden. Gestern war das Neujahrsfest der jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger. Von diesem Pult aus wünsche ich ihnen alles Gute zum neuen Jahr.

Außerdem ist heute Ramadan der muslimischen Mitbürgerinnen und Mitbürger. Erlauben Sie mir – die Mehrsprachigkeit ist schließlich vorhanden –, auf Arabisch „Kul a’am wa antum bi khair“ und auf Türkisch „Bayraminiz kutlu olsun“ zu sagen. Das ist eine Form der Willkommenskultur. Ich hoffe, Sie werden mich dabei unterstützen. – Herzlichen Dank.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Frank Lortz:

Herzlichen Dank, Frau Kollegin Öztürk.

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